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Reality Check 2.20
Florian Arleth
Die 2020er begannen mit der Aussicht
auf ein zehnjähriges Jubiläum für das,
was als von vielen Händen gekitteter Scherbenhaufen zerbrochener Ideale
verstanden werden kann, eine Schulbuchmetapher, auch namentlich,
die es über den Rhein schaffte und wieder zurück,
die nun behütet von den grünen Hügeln der Pfälzer Heimat,
mit dem Hambacher Schloss auf zwei Uhr,
in diesen turbulenten Jahren gedeiht.
Neue Perspektiven in der Provinz, im größten Dorf Deutschlands,
wo die Haus-Hof-Straßen so weitläufig
wie das kulturelle Brachland sind.
Schwieriges Geläuf für kreativ Kumpanei
und die eigene Bühne steckt noch hinter
dem Betonwucher der Doppelgarage.
Eine Epidemie als Lehrstunde für gesellschaftliche Systemrelevanz
der Reality-Check 2.20
mit der Kunst irgendwo im Abseits
auf unkrautüberwuchertem Ascheplatz.
Denn während der hundertste Passagierjet Richtung Mallorca flog,
musste Kultur hinter Plexiglasscheiben stattfinden,
im Freien und mit meterweise Abstand zwischen Kunst und Publikum
oder eben als Konservenware auf YouTube und Facebook,
untergehend im Medienrummel der digitalen Welt,
dabei mit dem gleichen Aufwand wie Lesungen in Fleisch und Blut,
nur eben mit zumeist einstelliger Digitalziffer als Publikumsnachweis.
Einzige Laufkundschaft in ZOOM-Lesungen dabei
der verwirrte Ehemann, der im Hintergrund des Zimmers plötzlich vorbeischlurft,
bei seiner Frau neben dem PC innehält und zuhört,
sich schließlich niederlässt und verharrt.
Und König Fußball füllt die Stadien,
König Fußball bricht die Regeln
König Fußball macht es zunehmend schwerer,
überhaupt noch ein Fan ehrlichen Mannschaftssports sein zu können.
Daher weiterhin ehrliche Kunst,
getrieben nicht von wirtschaftlichen Interessen
oder dem Geschmack des Bildungsbürgertums
für vereinfachende Welterklärungen oder hoffnungsvolle Heilsversprechen,
stattdessen weiterhin die Nummer in Schwarz-Weiß,
stattdessen weiterhin Gedichtbände auf Papier,
stattdessen weiterhin der ruhelose Wortschmied,
auf der Suche nach Geschichten,
die noch erzählt werden müssen.
Oder die weitergeschrieben werden müssen,
wie diese hier auch,
denn es kam ein Kind zur Welt und gibt der brotlosen Kunst
eine neue Daseinsberechtigung,
in Zeiten, in denen
selbst alte Freunde sagen:
„Als Vater wirst du dieses Verlagsding
ja hoffentlich sein lassen!“
Als hätte ich mir das nicht selbst gedacht,
(2022 wie auch schon 2012),
und als wäre die Möglichkeit materieller Absicherung durch Kunst
bei dieser schmalen Gratwanderung durch den Kapitalismus,
ein Grat womöglich definiert durch den Verkauf der Ware und den der Seele,
(2022 wie auch schon 2012),
überhaupt eine Option.
Doch im Sog der Inflation
gedeihen das Prekariat
und in weiteren zehn Jahren
kann das Mädchen zumindest hören
dass Papa es nicht unversucht ließ.
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Es gibt uns
Alexander M. Neumann
Verlorene gibt es da draußen,
und Suchende, und die,
die alles aufgegeben haben.
Aber es gibt auch die Weisen, die stumm
dem Tag begegnen und der Sonne
ein Lächeln schenken.
Es gibt die Geduldigen, die nichts wissen
von Spielzeit oder Einsendeschluss,
die in ihren Nischen sitzen,
murmelnd, selbstvergessen.
Falschspieler gibt es
und Weltuntergangsprediger,
die mahnen, die klagen,
die den Notstand ausrufen.
Aber es gibt auch die Aufrichtigen,
die keine Zauberformeln bepreisen,
die keine Manipulationstaktiken entwickeln.
Und es gibt mich, der nicht müde wird
vom Träumen, vom Staunen
und dem wiederholten Aufbruch ins Ungewisse.
Und es gibt dich, der Treue geschworen hat.
Es gibt dich, der stets den rechten Weg sucht.
Und es gibt uns, die gemeinsam erstrahlen,
dem Himmelslicht gleich,
die gemeinsam neue Tafeln schreiben
und die gemeinsam besiegen:
Blindheit, Argwohn und Schwere.
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Himmelherztüren
Simon Felix Geiger
hinter der schützenden Mimikmaske
eskalieren und entgleisen Gesichtszüge,
stapeln sich Wahnsinns-Waggons
wangenweise, selbstschutzleise
hinter der Sichtbarkeit
vorgetäuschter Sicherheit
Fragilitätsfragmente
verunsicherte Unwissenheit
im Verlorengehen einst erhoffter
Supermannperfektionsallüren
öffnen sich unvollendet-
verwundbare Himmelherztüren
4. Platz beim zwölften Internationalen Lyrikpreis Lyrischer Lorbeer 2022
mit dem Gedicht *himmelherztüren*
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Ein unendliches Blumenmeer
Maurice Moel
Ein unendliches Blumenmeer
breitet sich aus vor deiner
Haustür
Kapuzinerkresse überall
Hummeln summen, fliegen
tanzend von einer
Blüte zur nächsten
Der Nektar nennt sich
Leben
Wir streben nach
Vollkommenheit
Wir sind vollkommen,
wenn wir nur leben und lieben
Durch ein Blumenmeer
wander ich
Der Morgen erstrahlt
in vollem Licht
Neue Träume
werden geboren,
dem Sonnenlicht gleich
Das Meer dort unten,
sieht aus wie ein Stück
Himmelreich
Unten der Himmel
und oben das Meer
Blumen überall
Ich bin der Nektar des Lebens
Die Welt dreht sich
Die Farben der Seele
Mein Herz schlägt,
frei
und im Einklang
mit der Welt
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Dreck
Paul Blau
Ich suhle mich im Dreck, aus dem ab und zu einmal eine Scherbe im Edelsteindesign hervorblitzt, aber auch das ist nur Zufallsmusik. Ansonsten bleibt es bei dem, was ich immer schon aussondere und abwerfe, oder was ich finde, auf den mir zugänglichen Müllplätzen. Immerhin ist es niemals eine Sonnenschein-atme-und-liebe-Schreibe von literarisch ambitionierten Yogalehrkörpern geworden. Worauf ich stolz bin. Und es findet auch keine behördlich geprüfte gebetsmühlenhaft politisch korrekte oder perfekt durchgegenderte Sprachschande in meinen Breitengraden statt. Denn du glaubst es nicht, aber tatsächlich ist eine Frau noch immer eine Frau, und ein Mann ist weiterhin ein Mann.
Ich suhle mich im Dreck und liebe die Verwirrkasperei. Ich drehe mich um die eigene Achse dieser Satzbauwerkstatt mit offenem Ausgang. Keine Literatur, sondern Exkremente, und das, was den Brechreiz auslöst. Ich lache dort draußen auf den Feldern, esse die Sonne auf und erkläre das Unkraut für ebenbürtig. Ich fordere einen angemessenen Platz dafür in den Auslagen der Floristik, ohne dass mir jemals ein lateinischer Blumenname geläufig wäre. Nun fülle ich den Rest des Textes mit Styroporkügelchen auf oder mit Packpapiergefasel, das in Paketen ein zu Unrecht stets verkümmerndes Dasein fristet. Ich fordere die Autonomie des Füllmaterials, die Berechtigung der Rückseite, die Erkenntnis aus dem, was unten rauskommt.
Ich suhle mich im Dreck, und weiß noch immer nicht, wo das endet, aber im Zweifelsfall dort im Aschenbecher oder in einer verkommenen Scheibe Gelbwurst, die der Nachbarhund übersehen hat. Es ist eine Wanderschaft mit durchlöcherten Schuhen, Regenrinnengeplapper, Einsamkeitsgelalle in völliger Schmerzfreiheit. Wenn du in die Pfütze fällst, genieße den üblen Nachgeschmack, wenn du dir dabei auf die Zunge gebissen hast. Die Hauptsache ist, dass du dir noch immer ein Wort herausdrückst, unnachgiebig und ohne Rücksicht auf zarte Seelen. Ich frage nicht nach einem fragwürdigen Publikum, das ja doch nur gelegentlich erscheint und das sich den Abend manchmal gar nicht selber ausgesucht hat. Ich stelle dich zufrieden mit Prothesen, die du wie eine alte Socke über dein Leben ziehen kannst. Was für ein Spaß, über die Zeilen zu huschen, während sich der Pegel der Rotweinflasche langsam nach unten senkt. Was für eine wilde ungezähmte und ungehörige Freude heute, schweißtreibend, schrecklich und ein so herrlich bösartiger Genuss.
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Begegnung auf dem Prüfungsamt
Lutz Brien
War gestern auf dem Prüfungsamt,
da hat es mir das Herz verbrannt;
Traf eine süße Saarländerin,
die reichte mir ihr Lächeln hin,
sprach von ihrer Sproch, ihrem Dialekt,
ihre Weichheit war mir ihr schönster Aspekt,
ich schmolz dahin, ich lächelte zurück,
dass ich sie traf, war ein großes Glück.
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Tempel des Lichts
Maurice Moel
Tempel des Lichts
Lichtkörper
Wie die Sonne
und die Himmelsgestirne
sind wir
Tempel des Lichts,
Lichtkörper
Die Seele ist das
Herzstück
meiner
Glückseligkeit
Folge der Kraft
deiner Intuition
Und auch wenn wir eines Tages
nicht mehr sein werden,
so wird doch unser Licht
nach wie vor in der Welt strahlen
Spüre dich im Vertrauen
Wunderschön sind deine Augen
Kraftvoll ist die Energie
welche aus dem Reich der
Mitte fließt
direkt ins Seelenmeer
Entzünde das innere Feuer
Wir alle sind
wandernde Energiezentren
Magier und Zauberer
Es tanzen die Sterne bei Nacht
Feuerelfen spielen Harfe
Die Kreativität entfaltet sich
wie ein Schmetterling
Ich bin Schüler und Lehrling
meines Selbst
Schüler und Lehrling
der Liebe, höherer Mächte des Lichts
Es tanzen die Gestirne
im Vollmond der Nacht
Folge der Kraft deiner
Intuition
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Schwebezustand
Alexander M. Neumann
Siehst du das Schwert über unseren Köpfen hängen? Es pendelt – eine permanente Bedrohung – die an ihrem Schwebezustand festhält. Es droht und droht, doch hat es kein einziges Mal gewagt uns zu verletzen. Es will nur unsere Augen, die allmählich trübe werden.
Mit jeder Stunde stumpf der Glanz ab. Haben wir jemals wirklich gelebt? Was ist aus jenen Verrücktheiten geworden, in die wir uns hatten stürzen wollen? – wieder und wieder der Sturz von dieser Brücke der Vernunft, die starr zwischen unseren Schädelhorizonten hängt.
Ab einem gewissen Punkt, so scheint es mir, besteht die Tendenz des Rückzugs in die eigene Unbehaglichkeit. Was bleibt ist die Wiederholung des Schrecklichen, das so sehr an Intensität verloren hat, dass es gerade noch erträglich ist, wie ein schmerzender Rücken mit dem man zu Bett geht und mit dem man nach einer unruhigen Nacht wieder aufsteht. Ich möchte es dir versprechen: eines Tages werden wir uns daran erinnern, dass wir es gewagt haben – ich weiß nicht was -, doch wir werden lächeln.
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Zu Hölderlin
Karl Vollmer
Ob es die Götter sind,
wie Hölderlin sagt, die
mich antreiben, beglücken,
Mut geben zur Selbstreflexion,
ich weiß nicht, ob die Worte stimmen?
Jedenfalls ist etwas in mir,
meine kreative Unruhe,
meine Lust zu probieren, spüren,
was das macht, wenn ich
Dinge sprechen lasse, forme,
dass sie Körper, Dinge werden,
Düfte, Hüften, Blüten, Augen.
Sie werden ganz konkret,
und fliegen durch den Kosmos
und mein Denken,
meine Finger, meine Welt.
Das Leben ist hineingehaucht
durch das Sagen,
Wort für Wort,
durch das Bilden,
Strich und Farbe.
Leben zum Fragen, ja.
Leben zum Prüfen,
ist es gut so?
Wir mit den Göttern, dem einen…?
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Es gibt kein Entrinnen aus der Kunst
Paul Blau
Es gibt kein Entrinnen aus der Kunst, sage ich. Ich spreche es anonym in den Wind, wo das Getöse unermesslich ist. Meine Stimme klingt laut, weil sie laut sein will, weil sie laut sein muss, lauter als die zerschossenen Fahnen, lauter als die Feuer der Zerstörung, lauter als der Lärm, den die Dummheit grölend überall vollführt.
In unseren Köpfen schlummern Schläfer, die nur darauf warten, Mohnblumen auszusäen auf all diesen vertrockneten Wiesen, in all diesen verwaisten Straßengräben, Mohnblumen, deren Blühen bleibt, wenn wir uns wiedersehen.
Gestern waren wir nüchtern, und wir hatten keine Botschaft mehr. Aber heute, glaub mir, heute erwachen wir mit unübersehbarer Kraft. Erschöpft lagen wir dort unten im Tal und hatten keine Stimme mehr, eine Heiserkeit hatte sich ihrer bemächtigt in mächtiger Beklemmung. Nun sind wir wieder zugegen, gegenwärtig und wach. Wir trinken schlechten Wein, als wären wir genau die Legenden, von denen wir in den traurigen Tagen bereits träumten, als wären wir genau die Verlierer, mit denen wir uns verbündeten, als wären wir genau die, die immer noch etwas heraus zu würgen haben, wenn jedem Andern bereits das Wort im Halse gebricht.
Es gibt kein Entrinnen aus der Kunst, rufe ich in eine taub gewordene Menschenmenge hinein, manchmal rufe ich, ohne dass dabei ein Ton zu vernehmen ist. Ich habe keine Waffe, ich habe nur ein Blatt Papier, das ich dir hinhalte, als hättest du darauf gewartet. In der Finsternis, die keine Sterne mehr kennt, erfinde ich dir Sterne, wenn du willst. Das ist meine geheime Fähigkeit, die ich unter der Haut trage, als müsste ich mich dafür schämen.
Ein wirres Bilderspiel entkommt den Öffnungen, Wirrwarr überhaupt schlüpft unter den gemäßigten Fragmenten von Eierschalen hervor, die nichts ahnen von ihrer schonungslosen Bestimmung. Die Vulkane sind im Ausbruch. Die Tore sind aufgetan. Ich habe keine Zuflucht mehr. So ringt es mit mir, kämpft es sich aus mir, schlangengleich schlängelt es sich nach draußen, ergießt sich gar im Schwall. Selbst wenn ich es zu verhindern suche, um vielleicht wenigstens einmal vernünftig zu sein, ergießt es sich erbarmungslos und absichtslos bis zuletzt.
Alles hat sich aufgelöst. Wir suchen eine Bleibe, und bleiben doch ruhelos und ohne Heimat. Wir hausen unter einem Bauwagen in der Erwartung, dass doch zu guter Letzt noch eine Abschweifung bleibt oder ein hoffnungsvoller Briefumschlag.
Es gibt kein Entrinnen aus der Kunst, denke ich und löse die Farben aus den Worten heraus, koste sie aus bis zum Schluss. Selbst wenn sie verblassen wie so oft, und wir uns bereits mit ihrem Verschwinden zufrieden gegeben haben, werden wir am Ende doch noch eines von diesen Stillleben in Händen halten, an denen die alten Meister sich erfreuten.
Ich weiß nicht, wo ich bleibe, also bleibe ich einfach hier. Ich sitze vor meinem Gemälde, unschuldig wie vormals, unschuldig wie ein Kind und trage Pigmente auf mit Pinseln, die meine Finger sind. Und wenn ich nur noch meine Finger habe, dann streichle ich dir die Haut bergauf und bergab, dann streichle ich dir das Öl ins Feuer. Ich brauche keine Ertüchtigung und keine Schulmeisterei, denn die Bewertungen der Museumsbesucher sind nicht mehr wert als eine Münze, die von Hand zu Hand geht. Niemand hat sich gemeldet, um mir die Sprache zurechtzufeilen, niemand hat sich gemeldet, um diese Worte abzurunden, niemand hat sich gemeldet, um sich mit mir zu versöhnen. So stehe ich einfach hinter dieser Straßenecke wie ein Video-Still, das ich mir ausgesucht habe.
Es gibt kein Entrinnen aus der Kunst, sage ich, denn es gibt keinen Ort, sich zu besinnen, es gibt keinen Ort, selbst wenn wir traurig werden dabei. Und es gibt keine Errettung aus dem Schrei, der von der Brücke fällt. Und es gibt keinen Ausweg aus der Schönheit, die wir sind, sage ich.